Tiefenhermeneutische Sozialforschung

Qualitative Sozialforschung ist das Erheben und Auswerten nicht standardisierter Daten. Gleichsam ihr Standard-Instrument ist das qualitative Interview. Während die Erhebung solcher Interviews vergleichsweise einfach ist (oder mindestens erscheint), muss man in die Auswertung Zeit und Grips investieren. Es gibt viele ausgefeilte Methoden dafür und wir werden uns in der Szene umschauen. Methodenanleitungen lassen sich aber nicht wie eine mathematische Formel auf Material anwenden. Man braucht dafür etwas Mutterwitz, ein Gefühl - ohne das deswegen alles intuitiv und subjektiv wird. Denn man muss qualitatives Material interpretieren. Im Seminar wird es besonders um die Kunst des systematischen und kontrollierten Interpretierens gehen.

Dabei wollen wir versuchen etwas hinter die vermeintlich ersten und ‚unmittelbar auf der Hand’ liegenden Sinnebenen von Interviews kommen. Texte, besonders narrative Texte, haben sehr viele Sinnebenen. Tiefenhermeneutik meint, man versucht latente Sinngehalte von Bedeutungsträgern (hier: Sprache, insbesondere narrative Interviews) zu ermitteln.

Unser Thema ist die Studienfachwahl und der Studienbeginn. Dafür interviewen wir StudienanfängerInnen verschiedener Fächer, transkribieren sie und üben uns in der Auswertung. Der Übergang von der Schule ins Studium ist eine einschneidende Umbruchphase in der Biografie. Die 18 bis 22jährigen befinden sich entwicklungspsychologisch in der Spät- bzw. Postadoleszenz, eine Zeit mit wichtigen sozialen als auch psychischen Entwicklungsaufgaben: Ablösung vom Elternhaus, persönliche, berufliche und politische Identitätsbildung, bewusster Aufbau eines Freundschaftsnetzwerkes, Übernahme von Verantwortung für das eigene Leben, Eingehen und Aufrechterhalten einer Liebesbeziehung.

Die Wahl des Studienfachs ist für die meisten die erste wichtige und freie Entscheidung für ihr weiteres Leben. Wie wird sie getroffen? Welche soziale und psychischen Ressourcen und Bewältigungsmuster und welche Anpassungsmechanismen spielen dafür eine Rolle?

Den Studienbeginn kann man als eine Statuspassage verstehen. SchülerInnen haben einen anderen Status als StudentInnen: Sie tragen Verantwortung für ihre Fachwahl, ihnen wird intrinsische Motivation und Freiwilligkeit unterstellt. Sie werden als Erwachsene angesprochen – aber noch gleichsam unter letztem Vorbehalt. Die NovizInnen werden aus ihrer Herkunfts- und Schulkultur in eine akademische und eine spezifische Fachkultur eingeführt. Wie erleben StudienanfängerInnen diese Habitustransformation? Bei wem gelingt die sog. Passung, bei wem nicht und warum?

Leistungsnachweis:

Moderation, absolut regelmäßge Teilnahme, Interviewführung und -auswertung (Hausarbeit).

 
Literatur

  • Bohleber, Werner (1996). Einführung in die psychoanalytische Adoleszenzforschung. In: Adoleszenz und Identität (9-40). Stuttgart: Verlag Internationale Psychoanalyse.
  • Erdheim, Mario (1998). Adoleszenzkrise und institutionelle Systeme. Kulturtheoretische Überlegungen. In: Apsel, Roland (Hg.): Ethnopsychoanalyse. Bd. 5: Jugend und Kulturwandel (9-30). Frankfurt/M.: Brandes & Apsel
  • Friebertshäuser, Barbara (2006). StudentInnenforschung – Überblick, Bilanz und Perspektiven biographieanalytischer Zugänge. In: Krüger, Heinz-Hermann/Marotzki, Winfried (Hg.): Handbuch erziehungswissenschaftliche Biographieforschung (295-316). Opladen: Leske & Budrich.
  • Liebau, Eckhart / Huber, Ludwig (1985): Die Kulturen der Fächer. In: Neue Sammlung, 25, 3, 314-339.
  • Mey, Günter (1999). Adoleszenz, Identität, Erzählung. Theoretische, methodologische und empirische Erkundungen. Berlin: Köster.
  • Oechsle, Mechthild (2009). Abitur und was dann? Berufsorientierung und Lebensplanung junger Frauen und Männer und der Einfluss von Schule und Eltern. Wiesbaden: VS
  • Rosenthal, Gabriele (2008/2011a). Interpretative Sozialforschung. München: Juventa.

 

 

Datenblatt
Semester: 
Wintersemester 2014/2015
Lehrende: 
Ort und Zeit: 
5.012, Di 14:15-15:45, ab 7.10.
Sprache: 
Deutsch
ECTS BA: 
7.5

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