Ethnographien der Praxis

Im Zuge des cultural turn und spätestens mit dem sog. practice turn erhält die Ethnografie innerhalb der Soziologie als spezifischer Forschungszugang eine verstärkte Aufmerksamkeit. Ethnografisch forschen heißt vor allem, sich den „Imponderabilien des wirklichen Lebens und des typischen Verhaltens“ (Malinowski) im Feld der Beforschten auszuliefern. Das Datenerhebungsinstrument der Ethnografie schlechthin ist deshalb die teilnehmende Beobachtung, mit der es im Idealfall gelingt, der verkörperten Vollzugswirklichkeit des Sozialen gleichsam miterlebend habhaft zu werden. Weil es die teilnehmende Beobachtung nach Möglichkeit vermeidet, sich von vorgefertigten soziologischen Modellen und Hypothesen leiten zu lassen, also die Kontrolle dem Feld überlässt anstatt das Feld mittels theoretisch konstruierter Variablen kontrollieren zu wollen, kann die Ethnografie durchaus zu Recht beanspruchen, ein weniger verzerrtes Bild von sozialer Wirklichkeit zu liefern als eine Forschung, die ihre Daten aus geschlossenen Fragebögen und sogar aus weitestgehend offen gehaltenen qualitativen Interviews bezieht. Allerdings ist es auch nicht so, dass die ethnografische Praxis ohne theoretische Vorannahmen auskäme, denn freilich hat sie sich sozialtheoretisch auszuweisen und schließlich suchen Ethnografen bestimmte Forschungsfelder, ob es sich hierbei nun um Organisationen, Professionen oder spezifische Szenen und Milieus handelt, nicht ganz zufällig auf. Das heißt, bereits das Forschungsinteresse an sich ist hochgradig konzeptgeladen und spätestes im Zuge der Datenauswertung kommt der Ethnograf nicht umhin seine vertieften Feldkenntnisse in anschlussfähige soziologische Konzepte zu übersetzen, allzumal dann, soll die Wissensproduktion über bloße Deskription hinausgehen. Ethnografische Forschung bewegt sich somit immer in einem Spannungsfeld zwischen Immersion und Distanzierung; ein Spannungsfeld, das nicht zuletzt forschungsethische Fragen aufwirft, worauf gerade die in den 1980er Jahren heftig geführte „Writing Culture“-Debatte (Clifford/Marcus 1986) aufmerksam gemacht hat. Vor diesem Hintergrund verfolgt das Seminar „Ethnografien der Praxis“ zwei Ziele: Einerseits soll es darum gehen, in die Methoden und Techniken des ethnografischen Forschens und Schreibens einzuführen (Feldeinstieg, Rollenorganisation, Beobachtung, Notizen, Auswertung etc.), andererseits soll aber auch danach gefragt werden, welche theoretischen und methodologischen Vorannahmen Ethnografien der Praxis mitkonstituieren. Neben der praktischen Einübung ethnografischer Praktiken sieht das Seminar also eine Beobachtung/Reflexion ethnografischer Praxis vor, was auf der Basis von einschlägiger Methodenliteratur sowie ausgewählten ethnografischen Fallstudien geschehen soll. Letzteres mag nicht nur dazu beitragen Ersteres zu orientieren, sondern auch die Möglichkeit bieten, darüber zu diskutieren, worin nun der eigentliche Beitrag der Ethnografie für die soziologische Forschung besteht, kurz: die mit ihr verbundenen Perspektiven, Probleme und Grenzen auszuloten.

Voraussetzung für den Scheinerwerb:

-     Mitarbeit, Referat und ethnografischer Bericht

Einführende Literatur:

Breidenstein et al. (2013): Ethnografie: Die Praxis der Feldforschung. Konstanz: UVK

Datenblatt
Semester: 
Wintersemester 2015/2016
Ort und Zeit: 
Blockseminar, Termine 12.12.2015/9.1.2016,/23.1.2016 10:00 - 17:00; R. 5.052
Vorbesprechung: Do, 15.10., 16.15 - 17.45, R. 5.052
Sprache: 
Deutsch
ECTS BA: 
5.0

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