Körper und Leib in der soziologischen Theorie

Beobachtet man das äußerst umfangreiche Feld der soziologischen Theorie, so scheint es kaum eine Facette gesellschaftlichen Lebens zu geben, die noch nicht umfassend einer soziologischen Reflexion unterzogen wurde und für die vor allem nicht ein vielfältiger soziologischer Wortschatz zur Verfügung stünde. So bilden etwa unter anderem grundlegende Begriffe wie Handlung, Struktur, Wissen, Sinn und Diskurs sowie Interaktion und Kommunikation das klassische Standardvokabular vieler Sozialtheorien. Bei all diesen begrifflichen Zugriffsmöglichkeiten der Erforschung der Sozialität macht sich jedoch nun bereits seit einiger Zeit in der soziologischen Debatte ein gewisses Unbehagen breit, da viele dieser theoretischen Grundbegriffe mit einem für das westlich-abendländische Denken typischen Idealmodell sozialer Akteure verknüpft sind. Im Vordergrund steht dabei der rational denkende Mensch, dem das bekannte cartesianische Diktum 'cogito, ergo sum' als Selbstverständnis genügt. Auf Basis einer solchen Abstraktion droht sodann eine, wenn nicht sogar die zentralste Bedingung für die menschliche Sozialität aus dem Blick zu geraten: Ihre genuine Körperlichkeit und Leiblichkeit.

Mit diesen Bedenken wird in Rechnung gestellt, dass wir uns nicht als rein leiblose Geisteswesen begegnen, sondern als physisch präsente Akteure. Das heißt wir nehmen uns als solche mit einem lebendigen, leibhaftigen Körper wahr. Und auch jedes Sagen und Tun erscheint ohne einen lebendigen Körper im Grunde nicht möglich. Dieser ist deshalb, so die daran anschließende Doppelannahme, erstens ganz entscheidend an der Entstehung von Sozialität – etwa wenn wir zusammen arbeiten oder feiern – beteiligt. Gleichzeitig handelt es sich dabei aber zweitens immer auch um sozialisierte, durch Sozialität geprägte und geformte Körper. Der Körper- und Leibbegriff kann deshalb offensichtlich nicht als eine lediglich zusätzliche Kategorie unter anderen behandelt werden, sondern erfordert ein generelles Umdenken in der Weise, wie wir die soziale Welt soziologisch verstehen und beschreiben.

Im Laufe des Seminars werden wir deshalb versuchen, mögliche soziologische Zugänge zur Körperlichkeit und Leiblichkeit nachzuvollziehen und dabei insbesondere genau jenem genannten Doppelaspekt systematisch nachgehen. Zu diesem Zweck steht im Zentrum des Seminars die Lektüre ausgewählter sozialtheoretischer Autoren und Studien (etwa Elias, Foucault, Goffman, Bourdieu), die wir hinsichtlich ihres Gespürs für die Körperlichkeit des Sozialen und der Sozialität des Körpers befragen werden. Denn, auch wenn der soziologischen Theorie augenscheinlich eine gewisse Körper- und Leibvergessenheit anhaftet, so eignen sich dennoch einige wichtige Denker des Fachs dazu, die Erinnerung an die soziologische Relevanz des lebendigen Körpers wiederzubeleben. Neben solchen dezidiert soziologisch gelesenen Texten werden wir aber zusätzlich auch zur genaueren Bestimmung dessen, was wir eigentlich meinen, wenn wir von ‚Körper’ und ‚Leib’ sprechen, einen Abstecher in die philosophische Anthropologie des Körpers (Plessner) sowie in leibphänomenologische Perspektiven (Merleau-Ponty, Waldenfels) unternehmen.

 

Teilnahmebedingungen und Prüfungsleistung:

Erwartet wird die Bereitschaft, sich intensiv mit theoretischen Texten zu beschäftigen sowie eine aktive Diskussionsteilnahme.

Der Leistungsnachweis kann über ein Referat und dessen schriftlicher Ausarbeitung erbracht werden.

Die Besprechung des genauen Seminarplans sowie die Verteilung der Referate findet in der ersten Sitzung statt.

 

Literatur zum Einlesen:

Crossley, Nick 2001: The Social Body. Habit, Identity and Desire. London: Sage Publications

Fingerhut, Joerg; Hufendiek, Rebekka; Wild, Markus 2013 (Hrsg.): Philosophie der Verkörperung. Frankfurt am Main: Suhrkamp

Gugutzer, Robert 2010: Soziologie des Körpers. Bielefeld: Transcript

Hirschauer, Stefan 2004: Praktiken und ihre Körper. Über materielle Partizipanden des Tuns. In: Hörning, Karl H.; Reuter, Julia (Hrsg.): Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis. Bielefeld: Transcipt, 73-91

Mauss, Marcel 2010: Die Techniken des Körpers. In: Ders.: Soziologie und Anthropologie, Bd. 2. Wiesbaden: VS, 199-220

Meuser, Michael 2004: Zwischen 'Leibvergessenheit' und 'Körperboom'. Die Soziologie und der Körper. In: Sport und Gesellschaft, 197-218

 

Datenblatt
Semester: 
Sommersemester 2015
Lehrende: 
Ort und Zeit: 
00.011 (Bismarckstr. 1a), Mi 10:15-11.45
Sprache: 
Deutsch
ECTS BA: 
5.0

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