Visuelle Soziologie

Immer deutlicher tritt hervor, dass sich die Soziologie bei der Analyse der gesellschaftlichen Realität nicht nur auf Textmaterialien beschränken kann, denn die Visualität der Moderne gewinnt, bedingt auch durch die massenhafte Verbreitung von Bildinformationen über moderne Medien, mehr und mehr an Relevanz. Will man von visuellen Reizen nicht überrannt oder manipuliert werden, wie in der Medientheorie postuliert und befürchtet, muss man das landläufige passive Verhältnis zu Bildern umkehren und durch aktive, z. B. wissenschaftliche Bemühungen lernen, das Visuelle systematisch und in seiner Eigenlogik zu verstehen und hermeneutisch zu entschlüsseln. Auf der anderen Seite zeigt eine kritische Perspektive auf die Rezeptionen des sogenannten Iconic Turn, dass in wichtigen soziologischen Untersuchungen sozialer Praxis schon wichtige Grundfragen zu Visualität und Visibilität impliziert sind, wie z. B. bei Georg Simmel, Erving Goffman oder Pierre Bourdieu. Sie zeigen, dass die zeithistorischen Bedeutungen habitueller Verhaltens- und Handlungsweisen, oder auch von Räumen, in denen wir uns bewegen und handeln auch auf visuelle Wahrnehmungen bezogen werden müssen. Somit werden nicht nur die Verhältnisse von Texten und Bildern, sondern auch von Sprechen und Sehen zu relevanten Untersuchungsgegenständen der Soziologie.

Texte und Bilder haben unterschiedliche Qualitäten und können unterschiedliche, wenn auch aufeinander bezogene Informationen liefern. Das Sichtbare unterscheidet sich vom Sagbaren, es enthält eigenständige, im Text nicht zugängliche Wissensbestände. Diese Informationen des Visuellen sind nicht nur wichtig für die Handelnden im Alltag, um sich in sozialen Situationen zu orientieren und Interaktionen zu verstehen, sondern sind auch eine wertvolle, wenn auch bislang nur vereinzelt genutzte sozialwissenschaftliche Datenquelle. Der Fokus des Seminars liegt darauf, zu lernen, wie mit visuellen Daten angemessen umzugehen ist, auf der Bemühung, diese zu „lesen“ und zu verstehen und dabei ihrer Eigenlogik gerecht zu werden. Dafür ist es notwendig, sich mit methodologischen und gegenstandstheoretischen Grundlagen auseinanderzusetzen, die die konstitutiven Zusammenhänge von Sprechen und Sehen im Verhältnis zu sozialer Praxis sowie von Text und Bild im Verhältnis zur sozialwissenschaftlichen Forschungspraxis berücksichtigen. Dabei werden wir mit Texten und Bildern arbeiten, das Gelernte also auch gleichzeitig umsetzen und einüben.

Das Seminar bildet eine Fortführung eines Kurses im Hauptstudium über Bildanalyse und Bildtheorie (Neueinsteiger sind willkommen), das im WS 2009/10 durchgeführt wurde. Aufbauend auf Grundlagen der Bildtheorie soll eine Erweiterung und Vertiefung des Verständnisses der Visuellen Soziologie in zwei gegenstandsbezogene Richtungen exemplarisch vorgenommen werden: a) zum einen im Bereich Soziale Ungleichheit sowie b) zum anderen im Bereich Architektur und Raumbezug des Handelns.

Literatur:

  • Raab, Jürgen 2008: Visuelle Wissenssoziologie, Konstanz, uvk
  • Fischer, Joachim/Delitz, Heike 2009: Die Architektur der Gesellschaft. Theorien für die Architektursoziologie, Bielefeld, transcript
  • Bohnsack, Ralf 2008: Qualitative Bild- und Videointerpretation, Stuttgart, utb
Datenblatt
Semester: 
Sommersemester 2010
Lehrende: 
Ort und Zeit: 
5.012, Dienstag 13:15-15:45
ECTS BA: 
7.5
ECTS andere: 
MAG,BAK: 9

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