Interaktion und Intersubjektivität

Der amerikanische Soziologe Randall Collins hat einmal treffend formuliert: »[…] micro-sociology – the principles of how people interact as human bodies in sight, sound and smell of each other—is the solidest part of what we know about the social world«. Angesprochen ist damit eine Sichtweise auf das soziale Geschehen, die ihren Fokus auf jene lebensweltliche Situationen lenkt, die sich in konkreten Begegnungen mit Anderen vollziehen. Sozialität wird auf diese Weise nicht primär aus übergeordneten Makroebenen, also aus epiphänomenalen Strukturen oder funktionalen Gesellschaftssystemen abgeleitet. Vielmehr sind es Interaktionen, das heißt das gemeinsame Handeln beziehungsweise die Teilnahme an einer geteilten Praxis in einem faktischen Hier und Jetzt, die aus interaktionssoziologischer Perpektive als Keimzelle des Sozialen besonders in den Vordergrund gehoben und gleichsam mikro-skopisch betrachtet werden. Denn, auch wenn wir es heute durchaus mit medialen, vernetzten und globalisierten gesellschaftlichen Zusammenhängen zu tun haben, die Kommunikation räumlich und zeitlich transzendieren, so sind es doch immer noch – oder sogar umso mehr und besonders – die Augenblicke gemeinsamer Präsenz, in denen sich Sozialität konstituiert, in denen sie sich erfahrbar und erlebbar ereignet. Es sind Situationen in Kopräsenz, die wir soziologisch gerade deshalb, aufgrund der Interaktion mit Anderen, als 'soziale', also als gesellschaftliche Begegnungen kennzeichnen können und die sich damit als Kern soziologischen Interesses empfehlen. Kurzum: Interaktion in Anwesenheit zählt!

Für eine Soziologie, die sich von dieser Einsicht ausgehend entsprechend als Interaktionsforschung versteht, ergibt sich aus dieser Grundhaltung gleichzeitig ein Problemhorizont, der sich klassischerweise unter dem Begriff der Intersubjektivität subsumiert, welcher auch für die soziologische Theorie insgesamt als eine bedeutsame Grundvokabel fungiert. Dahinter steht ein Portfolio von grundlagentheoretischen Fragen nach den Bedingungen der Möglichkeit von gelingender Verständigung, des gegenseitigen Verstehens, von Empathie und Kooperation, der wechselseitigen Abstimmung des Handelns, oder aber auch, wie eigentlich der Andere überhaupt als Anderer erfahren wird. In einem Satz: Es geht darum, den Prozess zu hinterfragen und zu verstehen, der im Alltäglichen meist fraglos geschieht, wenn Akteure und Akteurinnen nicht subjektiv alleine handeln, sondern sich inter-subjektiv begegnen und miteinander agieren und kommunizieren.

Das Ziel des Seminars ist es, zum einen solche Problemstellungen von Interaktion und Intersubjektivität nachzuvollziehen und zum anderen sozialtheoretische Lösungsangebote gleichermaßen kennenzulernen. Wir werden zu diesem Zweck zu Beginn versuchen, uns zunächst sozialphilosophischen Texten und Autoren (Edmund Husserl, Jean-Paul Sartre, Max Scheler) kursorisch zu nähern, die sich besonders stichwortgebend und einflussreich für die soziologische Theoriebildung erwiesen haben. Mit der daraus erarbeiteten Grundfragestellung des Problems der Intersubjektivität werden wir uns sodann als Hauptaugenmerk in Richtung soziologischer Klassiker bewegen und diese nach ihrem Umgang mit der Intersubjektivitätsproblematik intensiv, aber auch kritisch befragen. Zu Wort kommen hier  die Ansätze der Sozialphänomenologie von Alfred Schütz, Erving Goffmans Studien zu Interaktionsordnungen, der symbolische Interaktionismus in Tradition George H. Meads, aber auch der kommunikative Konstruktivismus nach Thomas Luckmann, die Ethnomethodologie Harold Garfinkels und schließlich Niklas Luhmanns Interaktionssysteme. In den Blick nehmen wir zudem auch zeitgenössische Autoren wie den oben genannten Randall Collins und seine Überlegungen zu Interaktionsritualen, die in interdisziplinärer Absicht und mit Bezug auf neuere kognitionswissenschaftliche Postulate formulierte 'Interaction Theory' von Shaun Gallagher, genauso wie Michael Tomasellos Studie zum Ursprung menschlicher Kommunikation.

Literatur zum Einlesen vorab:

Abels, Heinz 2010: Interaktion, Identität, Präsentation. Eine kleine Einführung in interpretative soziologische Theorien. Wiesbaden: Springer VS

Bedorf, Thomas 2011: Andere. Eine Einführung in die Sozialphilosophie. Bielefeld: transcript

Crossley, Nick 1996: Intersubjectivity. The Fabric of Social Becoming. London: Sage

Schützeichel, Rainer 2004: Soziologische Kommunikationstheorien. Konstanz: UVK

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Die genaue Textauswahl in Form des Seminarplans und die Prüfungsmodalitäten werden in der ersten Sitzung des Semesters besprochen. Bedingung und Voraussetzung einer erfolgreichen Teilnahme sind die Bereitschaft, eine kontinuierliche (vereinzelt auch englischsprachige) Textlektüre über die Sitzungen hinweg durchzuhalten, ein Interesse für theoretische Soziologie und die entsprechende Beteiligung an der jeweiligen Seminardiskussion.

Datenblatt
Semester: 
Wintersemester 2015/2016
Lehrende: 
Ort und Zeit: 
5.012, Mittwoch 12.15-13.45
Sprache: 
Deutsch
ECTS BA: 
5.0

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