Praxistheorien

Unter dem Label des 'practice turn' entwickelt sich bereits seit einiger Zeit eine neue paradigmatische Wendung innerhalb der soziologischen Theoriedebatte, die sich als Familie der Praxistheorien versteht. Diese versucht, Praxis als Schlüsselbegriff einer Neubestimmung der Sozialität zu etablieren. Mit dem Terminus der Praxis, der ein konkretes Tun beziehungsweise den praktischen Vollzug von 'doings and sayings' hervorhebt, findet vor allem eine besondere Fokussierung auf die Materialität des Sozialen statt. Menschliche Körper und Leiber, die sie auszeichnende präreflexive Habitualität und ihr implizites Wissen als tätige Könnerschaft, genauso wie physische Gegenstände in ihren Gebrauchsqualitäten und Widerständigkeiten werden als konstitutiv für die praktische Vollzugswirklichkeit des Sozialen angesehen. Ein aus dieser Verortung der Sozialität als Praxis gewonnenes praxistheoretisches Vokabular, welches sodann das soziale Geschehen primär nicht mehr aus utilitaristischen Entscheidungen einzelner bewusstseinsphilosophisch konturierter Akteure, nicht aus blinder Normbefolgung und auch nicht aus ahistorischen Funktionen abstrakter sozialer Systeme ableiten muss, grenzt sich daher insbesondere deutlich von rein individualistischen und holistischen Sozialtheorien ab und bietet einen Alternativweg aus sozialontologisch einseitig erstarrten Mustern der Erfassung sozialer Phänomene. Kurzum: Theorien der Praxis versuchen entsprechend, bislang in der Soziologie fest verankerte Dualismen wie die essenzialistischen Unterscheidungen zwischen Individuum und Gesellschaft, Mikroebene und Makroebene oder auch jener zwischen Geist und Körper zu unterlaufen und die Beschreibung und Erforschung des Sozialen näher an die im Wortsinn 'tat-sächliche' Praxis heranzuführen.

Ziel des Seminars ist es, die soziologische Praxistheorie in ihren Kernargumenten, aber auch in ihren Variationen und unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen kennenzulernen. Denn, wie bereits angedeutet und es darüber hinaus der Plural des Titels des Seminars erkennen lässt, handelt es sich nicht um eine einzige, abgeschlossene Theorie aus der Feder eines einzelnen Autors, sondern um ein durchaus divergentes und offenes Geflecht von Ansätzen, die jedoch die genannte Grundhaltungen in ihren Theoriebildungen weitestgehend teilen. Dies erlaubt uns, im Seminar einen breiten Überblick über praxistheoretische Soziologie mittels der Lektüre verschiedener Texte und Autorinnen zu gewinnen. Im Mittelpunkt stehen dabei für die Praxistheorie selbst bereits klassisch gewordene Schriften wie etwa Pierre Bourdieus Habitus-Konzept sowie Anthony Giddens' Überlegungen zu Struktur und Strukturierung. Gleichzeitig werden wir uns aber beispielsweise auch dem weniger kanonisierten amerikanischen Pragmatismus John Deweys zuwenden und ebenso Ausschnitte aus Judith Butlers Ausführungen zur Performativität, den Überlegungen Bruno Latours zu Verflechtungen von Mensch und Ding als Akteur-Netzwerke oder aber auch der Ethnomethodologie Harold Garfinkels lesen. Inhaltlich abgerundet wird das Seminar zudem durch die Beschäftigung mit zeitgenössischen qualitativen Studien, die bestrebt sind, die Praxistheorie ebenfalls als empirische Praxisforschung zur Anwendung zu bringen.

Literatur zum Einlesen vorab:

Alkemeyer, Thomas; Schürrmann, Volker; Volbers, Jörg 2015: Praxis denken. Konzepte und Kritik. Wiesbaden: Springer VS

Hillebrandt, Frank 2014: Soziologische Praxistheorien. Eine Einführung. Wiesbaden: Springer VS

Reckwitz, Andreas 2003: Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive. In: Zeitschrift für Soziologie 32, 282-301

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Die genaue Textauswahl in Form des Seminarplans und die Prüfungsmodalitäten werden in der ersten Sitzung des Semesters besprochen. Bedingung und Voraussetzung einer erfolgreichen Teilnahme sind die Bereitschaft, eine kontinuierliche Textlektüre über die Sitzungen hinweg durchzuhalten, ein Interesse für theoretische Soziologie und die entsprechende Beteiligung an der jeweiligen Seminardiskussion.

Datenblatt
Semester: 
Wintersemester 2015/2016
Lehrende: 
Ort und Zeit: 
Mi 10:15-11:45
HS A 2.021, Theologie Kochstr. 6
Sprache: 
Deutsch
ECTS BA: 
5.0

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