Underclass, Unterschicht, unterprivilegierte Volksmilieus

In dem Bestreben gesellschaftliche Phänomene zu erklären, sind SoziologInnen regelmäßig mit dem Problem konfrontiert, ihren genuin heterogenen Untersuchungsgegenstand - die Gesellschaft - in strukturell homogene Untereinheiten aufzugliedern. In diesem Zusammenhang ist es der Anspruch der Sozialstrukturanalyse, zentrale Merkmale bzw. Merkmalskombinationen herauszustellen, die es im Idealfall erlauben, jedes Gesellschaftsmitglied einer sozialen Gruppierung zu zuordnen. Die hiermit verbundenen Schwierigkeiten beschränken sich jedoch nicht nur auf die Auswahl geeigneter Indikatoren für eine möglichst adäquate Beschreibung gesellschaftlicher Strukturen. Vor dem Hintergrund sozialer Wandlungsprozesse bedarf es zudem einer fortwährenden Überprüfung und Anpassung dieser Strukturindikatoren an die sich ändernden gesellschaftlichen Verhältnisse. Unter diesen Umständen mag die Vielzahl unterschiedlicher sozialstrukturanalytischer Ansätze nicht sonderlich verwundern. Zu berücksichtigen ist hierbei jedoch, dass mit den divergierenden Analyseansätzen auch unterschiedliche Abbilder der sozialen Wirklichkeit geschaffen werden.

Die Auswirkungen derartiger Differenzen treten insbesondere mit Bezugnahme auf die sozial benachteiligten Bevölkerungssegmente hervor. So gehen beispielsweise mit den, nicht nur in der öffentlichen Diskussion, häufig synonym verwendeten Begriffen des „Prekariats“ und der „neuen Unterschicht“ zwei gänzlich unterschiedliche Problemperspektiven einher. Robert Castel (2009: 21ff) verwendet den Prekariatbegriff, um auf die gesellschaftlichen Konsequenzen einer signifikanten Zunahme diskontinuierlicher Beschäftigungsverhältnisse aufmerksam zu machen, welche die Betroffenen in einen Zustand der permanenten sozialen und wirtschaftlichen Verunsicherung versetzten. Dahingegen charakterisiert Paul Nolte (2005: 57 ff) die „neue Unterschicht“ als ein Resultat wohlfahrtsstaatlicher Überführsorge, das seinen Ausdruck in der Herausbildung einer „ethnisch unterschichteten“, integrationsunwilligen, bildungsaversen, verantwortungsscheuen, unpolitischen und suchtmittelaffinen Bevölkerungsgruppe findet. Neben der Veranschaulichung der Dependenzen zwischen Analyseansatz und Untersuchungsergebnis vermittelt dieses Beispiel einen ersten Eindruck über die Spannweite der sozialwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Thematik der sozialen Benachteiligung.

Im Rahmen des Seminars sollen daher die gegenwärtig angewandten Ansätze der Sozialstrukturanalyse und der Armutsforschung hinsichtlich ihrer je spezifischen Perspektive auf die sozial benachteiligten Bevölkerungssegmente vergleichend gegenübergestellt werden. Angesichts der vielfältigen strukturanalytischen Konzepte erscheint zudem eine Hinterfragung der einzelnen Ansätze in Bezug auf ihre fortwährende Angemessenheit und Eigenständigkeit durchaus angebracht.  

Einführende Literatur

Böhning, Björn; Dörre,  Klaus; Nahles, Andrea (Hrsg.) (2006). Unterschichten? Prekariat? Klassen? - Moderne Politik gegen soziale Ausgrenzung. Dortmund: SPW.

Datenblatt
Semester: 
Sommersemester 2015
Ort und Zeit: 
5.012, Mi 12:15-13:45
Sprache: 
Deutsch
ECTS BA: 
5.0

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