Adoleszenztheorien

Der Jugendliche „wehrt seine Triebregungen ab, gibt ihnen aber auch nach; er vollbringt Wunder an Selbstbeherrschung, ist aber auch ein Spielball seiner Gefühle. Er ist gleichzeitig in voller Revolte und voller Abhängigkeit. Er ist bereit, sich selbst aufzugeben und anderen hörig zu werden, sucht aber gleichzeitig seine eigene Identität; er hat mehr künstlerisches Verständnis, ist idealistischer, großzügiger und uneigennütziger als je zuvor oder nachher; aber er ist auch das Gegenteil: egoistisch, selbstsüchtig und berechnend“ (Anna Freud, 1958). Die Adoleszenz fasziniert SozialwissenschaftlerInnen seit ihrer Entwicklung am Anfang der bürgerlichen Epoche. In ihr, so die Vermutung, lässt sich die Zukunft der Gesellschaft vorhersehen.

Tatsächlich findet hier ziemlich vieles in ziemlich kurzer Zeit statt: (Wieder-)erwachen der Sexualität, Ablösung von den Eltern, Integration in Gruppen von Gleichaltrigen, Entwicklung moralischer und kognitiver (nicht aber: ökonomischer) Autonomie und politischen Bewusstseins. In der Adoleszenz trifft der Einzelne lebensgeschichtlich nicht mehr vermittelt über und gepuffert von der Familie, sondern direkt auf Gesellschaft: Erst in Form der (Hoch-)Schule, dann der Arbeitswelt. Insofern ist es berechtigt der Adoleszenz eine biografische als auch gesellschaftliche Schlüsselstellung zuzusprechen.

Wir befassen uns mit soziologischen, psychoanalytischen und entwicklungs­psychologischen Theorien der Adoleszenz und steigen ein in Diskussionen um ihren Wandel. Definitionen und Grenzen von ‚Adoleszenz’ erscheinen heute immer schwerer exakt zu bestimmen. Die Diagnosen reichen von der These eines Endes der Adoleszenz (Stichwort: früher Leistungsdruck, Verantwortungsübernahme) bis zur Adoleszenz ohne Ende (Stichwort: Kult der Jugendlichkeit). Die biografische Passage hat sich pluralisiert, entgrenzt und entstrukturiert. Während strenge Regeln eher zurücktreten, gelten abstrakte, aber reißfeste Kompetenz- und Leistungsanforderungen.

Leistungsnachweis: Moderation, schriftliche Beiträge während der Vorlesungszeit.

Bosse, Hans (1999). Individualisierung ohne Individuierung. Psychoanalytisch-sozialwissenschaftliche Hermeneutik am Beispiel der Modernisierung von Männlichkeitsentwürfen. In: Glatzer, Wolfgang (Hg.): Ansichten der Gesellschaft (353–362). Opladen

Erdheim, Mario (1998). Adoleszenzkrise und institutionelle Systeme. Kulturtheoretische Überlegungen. In: Apsel, Roland (Hg.): Ethnopsychoanalyse (9-30). Frankfurt/M.

King, Vera (2011). Beschleunigte Lebensführung - ewiger Aufbruch. Neue Muster der Verarbeitung und Abwehr von Vergänglichkeit. In: Psyche, Heft 65, 1061-1088

King, Vera/Flaake, Karin (2003) (Hg.). Weibliche Adoleszenz. Zur Sozialisation junger Frauen. Weinheim

— (2005) (Hg.). Männliche Adoleszenz. Sozialisation und Bildungsprozesse zwischen Kindheit und Erwachsensein. Frankfurt/New York

Krüger, Helga (1991). Subjektbildung in der Adoleszenz und die Bedeutung von Arbeit. In: Helsper, Werner (Hg.): Jugend zwischen Modeme und Postmoderne (147-162). Opladen

Mansel, Jürgen/Kahlert, Heike (2007). Arbeit und Identität im Jugendalter vor dem Hintergrund der Strukturkrise. Ein Überblick zum Stand der Forschung. In: Dies. (Hg.): Arbeit und Identität im Jugendalter. Folgen der Strukturkrise für die berufliche Sozialisation (7-32). Weinheim/München

Datenblatt
Semester: 
Sommersemester 2013
Lehrende: 
Ort und Zeit: 
Dienstag, 14.15-15.45 Uhr, 5.052
Sprache: 
Deutsch
ECTS BA: 
5.0

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